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PerditaX

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13. Oktober 2009, 00:00 Uhr

Ernährungsweisheiten

Ratlose Ratgeber

Von Ullrich Fichtner
Schadet Rotwein, oder hält er gesund? Muss man Kirschen essen? Und viel Wasser trinken? Oder wenig? Eine Polemik gegen die Einfältigkeit der Ernährungswissenschaften.

Knoblauch hilft gegen Krebs, Zwiebel gegen Magengeschwüre, roter Wein ist gut, rotes Fleisch ist böse. Orangen halten fit, Fisch ist gesund, jedenfalls meistens, "salzarme Ernährung schützt vor Herz-Kreislauf-Krankheiten" und "Fast Food fördert womöglich Alzheimer". Dies sind wahllos gepickte Meldungen aus der Welt der Ernährungswissenschaften. Sie geben einen Eindruck davon, dass ein beliebigeres Forschungsfeld als das von der menschlichen Ernährung auf Erden nur sehr schwer zu finden ist.

Wer die vermischten Nachrichten liest, kann das Muster ihrer Verlautbarungen leicht nachäffen, denn es ist immer gleich: "Wissenschaftler der Universität XY haben herausgefunden, dass", nur mal als Beispiel, "Kirschen nicht nur stark im Kampf gegen freie Radikale sind, sondern auch das Risiko für Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verringern." So stand es im "Focus", also muss es wahr sein, wie überhaupt der Expertenglaube auf dem Feld der Ernährung ungebrochen scheint.

Wieder und wieder gehen Professoren und Doktoren hausieren mit Erkenntnissen, die 1. entweder längst Allgemeingut, 2. irrelevant oder 3. meistens nur Spiegelbilder unserer kollektiven Ernährungsstörungen sind.

Unter Punkt 1 fallen Studien, die stets aufs Neue nachweisen, dass zu viel Butter ungesund ist, eine Ernährung ganz ohne Obst ebenso, und dass der tagtägliche Verzehr von geräucherten Makrelen zu Problemen führen könnte. Unter Punkt 2 - irrelevant - sind die Studien zu finden, die in Äpfeln mit Druckstellen "Patulin" nachweisen oder im geräucherten Heilbutt "Toxaphen", was immer das im Einzelnen sei - die dabei aber vor allem unterschlagen, dass kein Mensch die genannten Lebensmittel in Mengen zu sich nehmen kann, dass die Möglichkeit einer Gesundheitsgefahr auch nur am Horizont auftauchte. Punkt 3 - die kollektive Störung - betrifft das Große und Ganze.

Die zugehörigen Fragen lauten hier: Bleibt ein Mensch gesund, weil er in seinem Leben viele Kirschen gegessen hat oder weil er jeden Tag spazieren gegangen ist - oder weil er spazieren gegangen ist und viele Kirschen gegessen hat? Wird er krank, weil er nicht genug Vollkornbrot auf dem Speiseplan hatte und dabei ständig zu wenig (oder zu viel!?) Wasser getrunken hat? Bleibt er gesund (oder wird er krank?), weil er abends stets zwei Gläser Rotwein trinkt? Geht es ihm vielleicht deshalb gut, weil er gern isst und trinkt, manchmal auch gegrillten Schweinebauch und danach drei Obstler? Und hilft es womöglich, dass er glücklich verheiratet ist? Und dass er Mozart-Opern mag? Und einen Hund hat?

Die Stoßrichtung dieser Fragen ist klar: Die Versuchsanordnungen der Ernährungswissenschaften sind in der Regel derart einfältig, dass ihre Ergebnisse nur lachhaft sein können. Ernsthaft und mit vielen Probanden, Labormäusen und "Kontrollgruppen" zu untersuchen, ob dieses oder jenes Lebensmittel je nach Dosis diesen oder jenen Effekt auf die Befindlichkeit haben könnte, ist ein Witz angesichts der tausendfältigen Faktoren, von denen unser Leben so offensichtlich tagtäglich abhängt. Wieso hat Onkel Franz, der nie in seinem Leben Alkohol und Zigaretten anrührte, der viel Salat gegessen und moderat Sport getrieben hat, mit Mitte 50 Lungenkrebs? Und wieso feiert Onkel Herbert, der immer noch Zigarren raucht und sich die meiste Zeit von Wurstbroten und Bier ernährt hat, bald seinen 93. Geburtstag?

Ernährungswissenschaft ist Rätselraten auf niedrigem Niveau, und entsprechend widersprüchlich sind alle Befunde. Der Wein und seine Wirkungen liefern dafür ein gutes Beispiel. Einige Jahre lang freute sich die ganze Welt am "French paradox", und nicht umsonst prägte ein Forscher aus Bordeaux diesen Namen: Hinter ihm versteckt sich die Hypothese, dass die Franzosen eigentlich viel zu viel Butter, Käse und Fleisch essen, dass sie deren schädliche Wirkungen aber mit Rotwein bekämpfen - und deshalb paradoxerweise seltener als ihre Zeitgenossen in den Nachbarländern an Herz und Kreislauf erkranken.
Ist es zu schön, um wahr zu sein? Das ist zumindest sehr wahrscheinlich. Man hat beispielsweise herausgefunden, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen von Frankreichs Ärzten lange Zeit einfach seltener als anderswo diagnostiziert wurden. Man hat festgestellt, dass Franzosen seltener zu Übergewicht neigen, man hat Verbindungen zum insgesamt "mediterranen" Lebensstil der Franzosen hergestellt, über Olivenöl nachgedacht, und manche Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass Butter, Käse und Fleisch eben in Wahrheit gar nicht ungesund seien. Ist also Rotwein - in Maßen - gesund? Geht es den Franzosen besser, weil sie ihn trinken? Oder weil sie besser, leichter zu leben verstehen? Wer weiß, wer weiß.


Spazieren gehen, bügeln, tanzen, Fahrrad fahren tut gut

Essen, Trinken, Ernährung sind Phänomene mit so vielen Unbekannten, dass sich lösbare Gleichungen daraus nicht basteln lassen. Ein Chemiker wird an ihnen immer nur erforschen, was für einen Chemiker interessant ist, und ein Mikrobiologe wird nur finden, was sein mikrobiologischer Blick sehen kann. Wie aber alles zusammenhängt, wie Knoblauch und Kirschen, Rotwein und Eheglück, Mozart, Hund und Vollkornbrot am Ende zum mehr oder minder gelingenden Leben eines Menschen werden - das fällt zum Glück nicht in den Beritt von Naturwissenschaftlern.

Dazu braucht es mehr kulturellen und philosophischen Mumm, wie ihn etwa die Chinesen seit Jahrtausenden beweisen. Wer sich mit ihrer Esskultur beschäftigt, staunt bald über die Tiefe der Erfahrung, die Genauigkeit der Befunde, den Reichtum an Essensspielen und -regeln, den immensen metaphorischen Reichtum der "fünf Elemente", die in Chinas Ernährung von der Farbe bis zur Würze alles regieren. Verbote, wie bei uns, gibt es kaum. Diktate, wie bei uns, ebenso wenig. Deutlich komplexer geht alles da zu, verwobener, dazu sagen wir westlichen Menschen dann schnell: Esoterik. Aber wer ist hier wirklich auf dem Holzweg?
Amerika, Europa, Deutschland haben in Sachen Essen einen erschütternden kollektiven Entfremdungs- und Entleerungsprozess hinter sich gebracht, in dessen Zuge das Essen in absurder Weise industrialisiert wurde.

Wir heute verbinden mit Essen nicht mehr die Suche nach Rezepten, nach Zutaten, nicht mehr den oft langwierigen Prozess der Herstellung, in den so viele Kulturtechniken und so viel Allgemeinwissen einfließen, nein: Unsere Ernährung beginnt heute gern mit dem Geräusch der Klingel am Mikrowellenherd, wenn die praktische Alu-Portionsschale nach dreieinhalb Minuten bei 800 Watt gut durchgeheizt ist. Kann es nicht sein, dass unsere Probleme genau daher rühren?

Und kann es nicht sein, dass der hiesige ernährungswissenschaftliche Ansatz, eine Tiefkühl-Lasagne nur in Brennwerte, Vitamine, Ballaststoffe aufzuspalten, die eigentliche Scharlatanerie ist? Dass unsere Ernährungswissenschaft beharrlich über die falschen Fragen nachdenkt? Dass es wichtiger wäre, über den Effekt von Tiefkühlnahrung auf die Seele des Konsumenten nachzudenken als auf seine Blutfettwerte? Oder darüber, dass beim Einkauf auf einem richtigen Markt und im Geplauder mit richtigen Bauern dort und bei der Berührung von richtigen Rettichen und Kohlköpfen und beim Geruch von Waldpilzen und beim Probieren von Feigen der Stoff entsteht, der uns am Leben und gesund erhält? Ist es Glück? Befriedigung? Kindheitserinnerung? Ist es Qi, wie die Chinesen sagen?

Es sind jedenfalls diese völlig unmessbaren Dinge, die eine wahre Ernährungswissenschaft eigentlich erforschen müsste. Die unsrige tut es nicht. Die Top-Nachricht auf der Homepage der "Deutschen Gesellschaft für Ernährung" lautete Anfang Juli einmal: "Studien belegen präventive Effekte körperlicher Aktivität auf Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs." Ins Deutsche übersetzt heißt das ungefähr: Spazieren gehen, bügeln, tanzen, Fahrrad fahren tut gut. Wer hätte das gedacht. Und wer bezahlt eigentlich Menschen Geld dafür, derlei Allgemeinplätze immer wieder zu produzieren? Und ansonsten "Ernährungspyramiden" zu basteln?

Guter Rat ist jedenfalls nicht zu haben. Alle Ratschläge kann man getrost überlesen, weil über kurz oder lang andere Wissenschaftler herausfinden werden, dass das Gegenteil des bislang felsenfest Gültigen stimmt. Der Mensch - bleibt ratlos zurück und hätte doch alle Antworten, so er sie nur hören könnte. Der Hunger, der Durst, der Appetit, die Lust auf Saures, Salziges, sie sind uns nicht allein dafür gegeben, im Supermarkt zwischen Tiefkühl-Pizza "Hawaii" und "Hellas" auszuwählen; sie sind eigentlich dazu da, uns bei der Wahl unserer Speisen zu leiten, und zwar ein Leben lang.

Jeder Einzelne könnte deshalb mehr über seine eigenen Bedürfnisse wissen als alle Ernährungswissenschaftler der Welt zusammen. Er müsste nur anfangen, nicht mehr auf sie zu hören, sondern sich selbst zu vertrauen.


http://www.spiegel.de/spiegelwissen/0,1518,655439,00.html

Ran an Butter und Rotwein! :mm:
 
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