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Morbidität und Mortalität bei Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter: Eine systematische Übersicht

The Morbidity and Mortality Associated With Overweight and Obesity in Adulthood: A Systematic Review

MEDIZIN: Übersichtsarbeit, DOI: 10.3238/arztebl.2009.0641
Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften, Gesundheitswissenschaften, Universität Hamburg: Dr. phil. Lenz, Richter, Prof. Dr. med. Mühlhauser

Hintergrund: Übergewicht/Adipositas wird generell ein erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko zugeschrieben. Neue Daten stellen die Eindeutigkeit dieses Zusammenhangs infrage.

Methoden: Cochrane, Pubmed und andere Datenbanken wurden systematisch durchsucht, mithilfe von Kombinationen themenrelevanter Suchbegriffe und Schlagwörter. Analysiert wurden internationale Metaanalysen und deutsche popula-tionsbezogene Kohortenstudien zu Assoziationen zwischen Übergewicht/Adipositas und Morbidität/Mortalität im Erwachsenenalter. Fallkontroll- und Querschnittsstudien wurden ausgeschlossen.

Ergebnisse: 27 Metaanalysen und 15 Kohortenanalysen wurden ausgewertet. Die Gesamtmortalität bei Übergewicht (Body-Mass-Index [BMI] 25 bis 29,9 kg/m2) ist im Vergleich zu Normalgewicht (BMI 18,5 bis 24,9 kg/m2) nicht erhöht. Demgegenüber ist sie für einzelne Erkrankungen erhöht, für andere vermindert oder unverändert. Ein Gesamtmorbiditätsrisiko ist nicht bekannt. Sowohl Übergewicht als auch Adipositas (BMI > 30 kg/m2) bergen für einige Erkrankungen ein erhöhtes, für andere ein vermindertes oder unverändertes Risiko. Für Adipositas ist das Risiko insgesamt größer. Mortalität und Morbidität werden wesentlich durch Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft und Sozialstatus mitbestimmt. Die externe Validität zur vergleichenden prognostischen Aussagekraft (c-statistic) von BMI, Taillenumfang und vom Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang kann durch die vorliegenden Analysen nicht beurteilt werden.

Schlussfolgerung: Die bisherige Annahme, Übergewicht berge gegenüber dem sogenannten Normalgewicht ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko, muss spezifiziert werden. Demgegenüber ist Adipositas für die meisten der untersuchten Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko assoziiert.
Schlüsselwörter: Übergewicht, Morbiditätsrisiko, Mortalität, Body-Mass-Index, Adipositas
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2009; 106(40): 641–8
Die Mehrheit der Deutschen gilt als zumindest übergewichtig (Body-Mass-Index [BMI] ≥ 25 bis 29,9 kg/m2), etwa 20 Prozent sind adipös (BMI ≥ 30 kg/m2) – mit geschlechts- und altersbezogenen Unterschieden (e1). Als Risikofaktoren für Übergewicht und Adipositas zählen familiäre Disposition, niedriger sozioökonomischer Status (SES), Stress, Essstörungen, endokrine Erkrankungen, Medikamente, Bewegungsmangel und Fehlernährung. Insbesondere die Bedeutung des Faktors SES wird wissenschaftlich kontrovers diskutiert (14).

Übergewicht, Adipositas und abdominales Fettverteilungsmuster werden als Risikofaktoren für eine Reihe von Erkrankungen eingestuft. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat 2008 bei den Autoren eine auf die deutsche erwachsene Bevölkerung übertragbare systematische Analyse dieser Zusammenhänge in Auftrag gegeben. Mit der vorliegenden systematischen Übersichtsarbeit werden auf Basis internationaler Metaanalysen und deutscher populationsbezogener Kohortenstudien Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken analysiert, die mit Übergewicht/Adipositas assoziiert sind. Einflüsse durch Geschlechtszugehörigkeit, Alter, Rauchen, ethnische Herkunft und SES werden berücksichtigt.

Methoden
Eine systematische Literaturrecherche (Dezember 2008) zu Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken bei Übergewicht/Adipositas sowie zum Einfluss von Störfaktoren, wie zum Beispiel Rauchen oder SES wurde in folgenden Datenbanken und Institutionen durchgeführt: Cochrane, PubMed, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Gesundheitsberichterstattung, Robert-Koch-Institut, Deutsche Agentur für Health Technology Assessment (HTA), International Network of Agencies for HTA.

Es wurden Suchbegriffe und Schlagworte in Kombination verwendet, beispielsweise „overweight“, „obesity“, „bodyweight“, „body mass index“, „mortality“, „morbidity“, „complication“, „meta-analysis“ (vollständige Suchstrategie im Appendix als eSupplement [DLMURL="http://aerzteblatt.lnsdata.de/download/files/2009/09/down140085.pdf"] pdf [/DLMURL] ).

Einbezogen wurden Metaanalysen von ausschließlich prospektiven Kohortenstudien. Deutsche populationsbezogene Kohortenstudien wurden zusätzlich eingeschlossen, weil diese häufig in den internationalen Metaanalysen nicht berücksichtigt werden und zudem als relevant für die deutsche Bevölkerung gelten.

Titel und Abstracts der identifizierten Publikationen wurden von zwei Wissenschaftlern (Lenz, Richter) unabhängig voneinander geprüft, die Literaturlisten ausgewerteter Übersichtarbeiten wurden nach weiteren Publikationen durchsucht. Ausgeschlossen wurden:

- Fallkontrollstudien, wegen ihrer Anfälligkeit für Kontrollgruppenverzerrung (Selektionsbias)
- Querschnittsstudien, weil diese keine Risikoaussagen erlauben
- Metaanalysen, die Querschnitts- oder Fallkontrollstudien beinhalteten
- Studien, deren Kohorten Kinder, Jugendliche oder ausschließlich Hochrisikogruppen umfassten, wie zum Beispiel Dialysepatienten oder Patienten mit Herzinsuffizienz
- Untersuchungen, die lediglich Surrogatparameter evaluierten, wie etwa Blutdruck oder linksventrikuläre Hypertrophie.

Die Qualität der eingeschlossenen Studien wurde nach Cochrane-Kriterien dokumentiert (e2) (eSupplement).

Aus den ausgewerteten Publikationen wurden – falls sie verfügbar waren – adjustierte körpermaßassoziierte Risikodaten extrahiert. Der Zusammenhang zwischen Expositions- und Zielparametern wurde unter Berücksichtigung von Faktoren wie Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status und ethnische Herkunft analysiert.

Die Ergebnisdarstellung ist deskriptiv. Meta-Metaanalysen oder Metaanalysen über alle eingeschlossenen Kohortenstudien wurden nicht durchgeführt. Für solche Analysen müssten Individualdaten für alle Kohortenteilnehmer aus den einzelnen Studien verfügbar sein, weil die in den Veröffentlichungen berichteten Expositions- und Referenzparameter für die meisten Zielparameter nicht direkt vergleichbar sind.

Ergebnisse
Insgesamt wurden 2 384 potenziell relevante Publikationen identifiziert (Auswahlprozedur siehe eSupplement). 27 Metaanalysen (Tabelle 1 gif [DLMURL="http://aerzteblatt.lnsdata.de/download/files/2009/09/down140012.ppt"] ppt [/DLMURL] ) und 15 Publikationen zu Kohortenstudien (Tabelle 2 gif [DLMURL="http://aerzteblatt.lnsdata.de/download/files/2009/09/down140013.ppt"] ppt [/DLMURL] ) wurden analysiert.

Expositionsparameter
Das gebräuchlichste anthropometrische Messverfahren ist der BMI. Den BMI-Kategorien werden verschiedene Begleiterkrankungsrisiken zugeschrieben (e3). Maße zur Beurteilung des viszeralen Fettdepots sind der Taillenumfang („waist circumference“, WC) und das Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang („waist-to-hip-ratio“, WHR). Eine abdominale Adipositas wird definiert als WC ≥ 88 cm beziehungsweise WHR ≥ 0,85 (Frauen) und WC ≥ 102 cm beziehungsweise WHR ≥ 1 (Männer) (e3). Arbeiten, die die Kategorien Übergewicht und Adipositas als Expositionsparameter analysieren, verwenden meist das sogenannte Normalgewicht als Referenzkategorie. Nichtkategoriale Analysen definieren meist einen um 1 oder 5 kg/m2 höheren BMI oder eine um definierte Werte höhere WC- oder WHR als Expositionsparameter.

Die externe Validität zur vergleichenden prognostischen Aussagekraft (c-statistic) von BMI, WC und WHR kann anhand der vorliegenden Analysen nicht beurteilt werden.

Gesamtmortalität
Nach den Metaanalysen und deutschen Kohortenstudien ist die Gesamtmortalität bei Übergewicht gegenüber Normalgewicht nicht erhöht (Tabelle 3 gif [DLMURL="http://aerzteblatt.lnsdata.de/download/files/2009/09/down140015.ppt"] ppt [/DLMURL] ). Die EPIC-Studie zeigte kein erhöhtes Mortalitätsrisiko bis zu einem BMI von 28 kg/m2 (5). Bei Adipositas ist die Gesamtmortalität um etwa 20 % erhöht (Tabelle 4 gif [DLMURL="http://aerzteblatt.lnsdata.de/download/files/2009/09/down140016.ppt"] ppt [/DLMURL] ) (6).

In Deutschland haben Frauen beziehungsweise Männer mit hochgradiger Adipositas (BMI > 36 kg/m2) im Vergleich zur Bevölkerung von Nordrhein-Westfalen (Referenzpopulation) ein 1,3- bis 3-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko (eSupplement, Tabelle 2) (7). Wenn das BMI-assoziierte Mortalitätsrisiko rechnerisch eliminiert wird (Adjustierung), ist für WC und WHR das Mortalitätsrisiko in allen Quintilen gegenüber der jeweils untersten Quintile erhöht (ausgenommen bei Frauen für die zweite Quintile WHR; Tabelle 5 gif [DLMURL="http://aerzteblatt.lnsdata.de/download/files/2009/09/down140017.ppt"] ppt [/DLMURL] ) (5).

Adipositas spielt mit steigendem Alter für die Gesamtmortalität eine zunehmend geringere Rolle (eSupplement, Tabelle 2) (8, e4). Nach dem 50. Lebensjahr besteht ein erhöhtes Mortalitätsrisiko für Frauen mit einem BMI > 36 kg/m2 und für Männer mit einem BMI > 40 kg/m2 (8). Nach dem 65. Lebensjahr ist Adipositas kaum (e4) oder gar nicht mit einer verkürzten Lebenserwartung assoziiert (8).

Krankheitsspezifische Risiken
Kardiovaskuläres Risiko – Metaanalysen zur Assoziation zwischen BMI und gesamtkardiovaskulärem Erkrankungsrisiko wurden nicht identifiziert. Bei Männern besteht eine Assoziation zum WHR (e5) (eSupplement, Tabelle 3). Das Risiko für eine koronare Herzkrankheit (KHK) ist bei Übergewicht um etwa 20 %, bei Adipositas um etwa 50 % erhöht (e6). Metaanalysen zum Herzinfarktrisiko wurden nicht identifiziert.

Sowohl Übergewicht als auch Adipositas sind mit erhöhten Risiken für Vorhofflimmern assoziiert (e7). Eine Assoziation zum Schlaganfallrisiko besteht nicht (e8).

Die gesamtkardiovaskuläre Mortalität bei Übergewicht ist für Frauen nicht und für Männer um etwa 10 % erhöht (Tabelle 3). Bei Adipositas ist sie für Frauen und Männer um etwa 50 % erhöht (Tabelle 4) (6), bei hochgradiger Adipositas (BMI > 40 kg/m2) um etwa 200 bis 300 % (7). Die KHK-Mortalität ist bei Übergewicht für Frauen nicht und für Männer um etwa 16 % erhöht. Bei Adipositas ist sie für Frauen um etwa 50 % und für Männer um etwa 60 % erhöht (6).

Typ-2-Diabetes – Das Typ-2-Diabetes-Risiko ist bei einem um 1 kg/m2 größeren BMI um etwa 20 % erhöht (e9). Gegenüber Normalgewicht ist es bis zu einem BMI < 27,2 kg/m2 nicht erhöht. Bei BMI 27,2 bis < 29,4 kg/m2 ist das Risiko um etwa 100 %, bei BMI ≥ 29,4 kg/m2 um etwa 300 % erhöht (e9, e10) (eSupplement, Tabelle 3). Für das Mortalitätsrisiko bei Typ-2-Diabetes liegen nur Daten für Menschen mit hochgradiger Adipositas vor (Tabelle 4).

Orthopädische Komplikationen – Ein größerer BMI ist mit einem niedrigeren Risiko für Knochen- und Hüftfrakturen assoziiert (e11) (eSupplement, Tabelle 3). Der Zusammenhang ist nicht linear: Am häufigsten treten Frakturen in den unteren BMI-Bereichen auf, bei einem BMI um 30 kg/m2 ist das Risiko für Knochenfrakturen weder erhöht noch vermindert und für Hüftfrakturen niedriger. Unter Eliminierung (Adjustierung) des Faktors Knochendichte sind die Ergebnisse nicht signifikant (e11).

Krebserkrankungen – Männer mit Übergewicht haben eine etwa 7 % niedrigere Gesamtkrebsmortalität (Tabelle 3), für Frauen besteht keine signifikante Assoziation. Zwischen Adipositas und Gesamtkrebsmortalität besteht kein Zusammenhang (Tabelle 4) (6). Bei hochgradiger Adipositas (BMI > 40 kg/m2) ist die Gesamtkrebsmortalität bei Männern nicht erhöht, bei Frauen etwa 1,5-mal so hoch wie in der deutschen Gesamtbevölkerung (7). Zur Assoziation zwischen Übergewicht/Adipositas und den Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken spezifischer Krebserkrankungen wurden 19 Metaanalysen (6, e12e29) und 3 für die deutsche Bevölkerung relevante Kohortenanalysen (7, e30, e31) ausgewertet (Tabellen 1 und 2). Eine der Übersichtsarbeiten enthält ihrerseits 20 Metaanalysen zur Assoziation zwischen Übergewicht/Adipositas und verschiedenen Krebserkrankungen (e26). Die körpermaßassoziierten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken sind je nach Krebsart niedriger, gleich oder höher (eSupplement, Tabelle 4).

Andere krankheitsspezifische Risiken – Übergewicht und Adipositas sind gegenüber Normalgewicht mit einem höheren Risiko für Asthma assoziiert (e32, e33) (eSupplement, Tabelle 3). Für Nierenerkrankungen (ohne Nierenzellkarzinom) bestehen erhöhte Risiken bei Übergewicht und Adipositas mit geschlechtsspezifischen Unterschieden (e29). Das Risiko für die gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD) ist laut einer multizentrischen Kohortenstudie (Deutschland, Österreich und Schweiz) (e34) bei größerem BMI deutlich erhöht.
Metaanalysen zu Ass
oziationen zwischen Übergewicht/Adipositas und gesundheitsbezogener Lebensqualität sowie Krankheiten, für die allgemein positive oder negative Zusammenhänge angenommen werden (zum Beispiel Gemütserkrankungen, Gallenblasenerkrankungen, Hyperurikämie/Gicht, Infertilität, Infektionskrankheiten, Schlafapnoesyndrom und Zahnkaries) wurden nicht identifiziert.

Diskussion
Die Interpretation der Ergebnisse stellt in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung dar. Nach den Analysen der Autoren ist die Gesamtmortalität bei Übergewicht nicht erhöht, wobei die Mortalitätsrisiken für einige Erkrankungen erhöht, für andere vermindert oder unverändert sind. Bei Adipositas ist die Gesamtmortalität etwa 20 % höher als bei Normalgewicht. Bei hochgradiger Adipositas kann sie um mehr als 200 % erhöht sein. Ob und welche Rolle Fettverteilungsmuster (WC und WHR) dabei spielen, bleibt mangels Daten weitgehend ungeklärt.

Für verschiedene Erkrankungen beziehungsweise Zielparameter konnten keine Daten identifiziert werden. Ein möglicher Grund dafür ist die Beschränkung auf die Auswertung von Metaanalysen und deutschen populationsbezogenen Kohortenstudien. Zudem werden in der Literatur überwiegend jene Erkrankungen analysiert, für die Hinweise auf einen möglichen Einfluss durch Übergewicht oder Adipositas bereits vorliegen. Es besteht somit vermutlich ein Untersuchungs- und auch Publikationsbias für Erkrankungen, die durch Übergewicht oder Adipositas begünstigt scheinen.

Unterstützt wird diese Annahme durch die Ergebnisse der Analysen zur Mortalität: Die Gesamtmortalität ist bei Übergewicht nicht erhöht. Diese setzt sich aus den jeweils krankheitsspezifischen Mortalitätsrisiken zusammen. Für viele der hier analysierten Krankheitsbilder ergeben sich erhöhte Risiken. Demnach muss es auch hier nicht identifizierte Krankheiten mit vermindertem Risiko geben.

Ähnlich stellt sich das Problem bei der Interpretation der Morbiditätsrisiken dar. Ob es verminderte Risiken für Erkrankungen gibt, zu denen die Autoren keine Daten identifiziert haben oder die bislang unerforscht sind, ist nicht zu beurteilen.

Ein höherer BMI kann für schwerkranke Patienten Vorteile haben: Für konsumierende Erkrankungen wie Krebs oder Infektionskrankheiten sind verminderte Risiken bei Übergewicht plausibel und werden durch die vorliegenden Analysen teilweise bestätigt. Internationale Metaanalysen (e35e38) zeigen, dass Patienten mit Herzinsuffizienz, nach Herzinfarkt oder perkutaner transluminaler Angioplastie durch Übergewicht/Adipositas vor Reinfarkt und Tod durch Herzinfarkt eher geschützt sind. Für Patienten auf Intensivstationen ist ein BMI 25–29,9 kg/m2 gegenüber BMI 18,5–24,9 kg/m2 mit einer geringeren Mortalität assoziiert (e39). Metaanalysen, die nur die schon bekannten Mortalitäts- oder Morbiditätsrisiken zusammenfassen, können wegen des Untersuchungs- und möglichen Publikationsbias irreführend sein (e40).

Eine weitere Unsicherheit betrifft die Bedeutung der berichteten Assoziationen. Zur Interpretation der klinischen Relevanz (relative Risiken [RR], Odds Ratios [OR] et cetera) muss die jeweilige populationsbezogene Inzidenz eines Zielparameters bekannt sein. Bei seltenen Erkrankungen können selbst hohe relative Risiken marginal relevant sein. Pro Jahr wird zum Beispiel für etwa 15 von 100 000 Menschen in Deutschland die Diagnose Non-Hodgkin-Lymphom gestellt (e41). Bei Adipositas ist das Risiko um etwa 20 % erhöht. Dies bedeutet, dass von 100 000 Menschen mit Adipositas pro Jahr etwa 18 Menschen die Diagnose Non-Hodgkin-Lymphom erhalten würden.

Die Erkenntnisse der Autoren basieren auf Kohortenanalysen. Es sind lediglich Angaben zu Assoziationen machbar, weil eine Adjustierung auf die zahlreichen Störgrößen nur begrenzt möglich ist. Ob die dargestellten Zusammenhänge kausal sind, bleibt offen. Mortalität und Morbidität werden beispielsweise durch das Alter, Geschlecht, SES, Rauchen und andere Faktoren wie der Körperfettverteilung mitbestimmt, die größtenteils untereinander in Wechselbeziehung stehen.

Im höheren Lebensalter steigt die Zahl konkurrierender Risikofaktoren (9). Damit verlieren einzelne Risikofaktoren für das Gesamtrisiko an Bedeutung. Verzerrungen können auch durch altersbedingte Krankheiten entstehen, die häufig mit einem Gewichtsverlust einhergehen (e4).

Wie in den meisten internationalen Studien (10, 11) ist auch für deutsche Populationen ein niedriger SES mit Übergewicht/Adipositas verknüpft (12, 13). Eine wichtige Rolle hierfür spielen die Komponenten Bildung (14), Arbeit, Einkommen (15) und Geburtsgewicht (10). Das geringste kardiovaskuläre Risiko haben sozial gut gestellte junge Menschen (10).

Rauchen modifiziert das BMI-assoziierte Lungenkrebsrisiko. Ein um 5 kg/m2 größerer BMI ist bei Rauchern mit einem verminderten Lungenkrebsrisiko assoziiert (RR: 0,76; 95-%-Konfidenzintervall [KI]: 0,67–0,85), bei Nichtrauchern ist der Zusammenhang nicht signifikant (RR: 0,91; 95-%-KI: 0,76–1,10) (e26). Raucher haben häufig ein geringeres Körpergewicht als Nichtraucher (e42), was in Studien zu Verzerrungen beitragen kann (e43). Ob nur das Rauchen oder das damit verbundene geringere Körpergewicht zur Risikoerhöhung beiträgt, ist offen.

Hinzu kommen Störgrößen, deren Einflüsse plausibel aber nicht quantifizierbar sind. Beim Diabetesrisiko zählen dazu undiagnostizierte Fälle, die bei Übergewicht und Adipositas häufiger entdeckt werden (e44). Vermutlich ist die Aufmerksamkeit für Diabetes in diesen Gruppen höher.

Die ethnische Herkunft modifiziert die Assoziation zwischen Übergewicht/Adipositas und einem Typ-2-Diabetes-Risiko (e45). Eine Quantifizierung und ethnische Spezifizierung ist wegen der Heterogenität der beobachteten Teilnehmer und Vielfalt der Expositionsparameter kaum möglich.

Potenzielle Fehlerquellen sind zudem nichtstandardisierte Methoden für die Messung von Hüft- und Bauchumfang (e46).

Externe Validierungsstudien zur vergleichenden prognostischen Aussagekraft von BMI, WHR und WC konnten durch die vorliegende Analyse nicht identifiziert werden. Damit bleibt die Verlässlichkeit individueller Risikoprognosen auf Basis dieser Parameter unklar.

Das Körpergewicht sowie die damit assoziierten Risiken unterliegen zeitlichen Trends (16). In den USA verschiebt sich seit den 1970er-Jahren der Wert des Körpergewichts mit der besten Lebenserwartung zu höheren BMI-Werten (16). Heute ist ein BMI um 27 kg/m2 im mittleren Lebensalter mit der geringsten Mortalität verbunden. Im Alter über 70 Jahre ist ein BMI 27–35 kg/m2 mit der geringsten Mortalität assoziiert (16).

Ähnliches gilt auch für deutsche Populationen (8). Somit hat Adipositas für die Mortalität an Bedeutung verloren.

Nach Abschluss der Arbeit der Autoren wurde eine weitere Metaanalyse publiziert (17). Sie umfasste Individualdaten von etwa 900 000 Studienteilnehmern aus 57 internationalen Kohortenstudien. Evaluiert wurde das Mortalitätsrisiko nach BMI-Kategorien. Die Arbeit bestätigt im Wesentlichen die Ergebnisse der eigenen Auswertung. Die Gesamtmortalität bei Übergewicht (BMI 25–30 kg/m2) im Vergleich zum Normalgewicht (BMI 18,5–25 kg/m2) ist nicht bis kaum erhöht. Allerdings werden in dieser Arbeit unübliche Kategorien definiert, was die Datenvergleichbarkeit einschränkt. Wichtiges Ergebnis der Analyse ist die ausgeprägte parabelförmige Verteilung des Mortalitätsrisikos. Insbesondere in der Kategorie eines „niedrig-normalen“ BMI (18,5–22,5 kg/m2) ist das Mortalitätsrisiko gegenüber einem BMI von 27,5–30 kg/m2 sogar erhöht. Zum Risikoanstieg oberhalb eines BMI von 28 kg/m2 tragen vor allem vaskuläre Krankheiten, in den unteren BMI-Bereichen vor allem Krebserkrankungen bei. Diese Ergebnisse stellen eine Einteilung in BMI-Kategorien wie Normalgewicht oder Übergewicht daher grundsätzlich infrage.

Fazit
Körpermaßassoziierte Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken sind nicht linear: Bei hochgradiger Adipositas sind die Risiken meist deutlich erhöht. Adipositas ist für viele Erkrankungen ein Risikofaktor, für wenige identifizierte Krankheiten sind die Risiken vermindert. Übergewicht hingegen birgt für einige Erkrankungen ein erhöhtes, für andere ein vermindertes Risiko. Die Gesamtmortalität ist bei Übergewicht nicht erhöht. Die Risiken durch Untergewicht sind nicht Gegenstand dieser Literaturanalyse. Allerdings ist für Untergewicht ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko gesichert. Die Annahme, dass Übergewicht gegenüber dem sogenannten Normalgewicht ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko birgt, muss spezifiziert werden (17).

Die Frage, ob alle Menschen oberhalb eines definierten BMI abnehmen sollen, kann über diese Analysen nicht beantwortet werden. Hierzu sind randomisiert-kontrollierte Studien notwendig, mit denen die Effektivität gewichtsreduzierender Interventionen untersucht wird. Eine Gewichtsreduktion kann je nach Intervention oder Interventionsgruppe erwünschte aber auch unerwünschte Wirkungen haben (e47e52); Langzeiteffekte sind unklar (e50). Allgemeine Empfehlungen zur Gewichtsreduktion können aus dieser Arbeit daher nicht abgeleitet werden.

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 11. 2. 2009, revidierte Fassung angenommen: 20. 5. 2009


Anschrift für die Verfasser
Dr. phil. Matthias Lenz
Universität Hamburg
Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften
Gesundheitswissenschaften
Martin-Luther-King-Platz 6
20146 Hamburg
E-Mail: [email protected]
(c)http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=suche&p=%FCbergewicht&id=66141
 
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